Über die Zukunft der Ortsgemeinde
Es ist nicht mehr zu leugnen, dass sich die Kirche in einem Umbruch befindet. Bereits seit Jahren zeichnete sich der Wendepunkt ab. Aber erst in jüngerer Zeit wird unübersehbar deutlich, dass der gesellschaftliche Wandel für die Kirche fundamentale Konsequenzen hat. Wie wird die Gemeinde von morgen aussehen? Wohin geht die Kirche: Quo vadis ecclesia?
Gemeinde – was ist das?
In der Regel benutzen wir den Begriff „Gemeinde“ heute sehr selbstverständlich. Wir haben eine gewisse Vor-stellung davon, was mit ihm bezeichnet wird. Schaut man genauer hin, so stellt man fest, dass das Phänomen, das mit dem Begriff „Gemeinde“ umschrieben wird, schwer fassbar ist. „Gemeinde“ lässt sich nicht einfach festschreiben. Hinzu kommt, dass der Begriff selbst noch sehr jung ist. Er stammt aus der nachreformatorischen Zeit und bezeichnet dort zuerst die Organisationsstruktur der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Während die katholische Kirche von jeher eine episkopale Struktur aufweist, in deren Zentrum immer die von einem Bischof geleitete Ortskirche steht, tritt in den reformatorischen Kirche die Gemeinde als geistliche und organsatorische Größe in den Vordergrund. Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff „Gemeinde“ auch eine weltliche Bedeutung besitzt und hier die Grundeinheit der kommunalen Selbstverwaltung, das heißt also die unterste Stufe im Verwaltungsaufbau eines föderalistischen Staates bezeichnet.
Ecclesia – Kirche und Gemeinde
Das Neue Testament kennt den Begriff „Gemeinde“ als solches nicht. Paulus etwa bezeichent die christlichen Gemeinschaften vor Ort als „Kirche (ecclesia) Gottes, die in diesem Ort existiert“. Der Begriff „ecclesia“ heißt wörtlich übersetzt „die Herausgerufenen“ und bezeichnet in der Antike allgemein eine ordnungsgemäß einberu-fene Volksversammlung. Die Kirche ist für Paulus eine Versammlung der von Gott Berufenen. Was wir als „Gemeinde“ bezeichnen, ist für ihn nichts anderes als die greifbare Manifestation der Kirche an einem bestimm-ten Ort.
Kirche bzw. das, was wir heute mit dem Begriff „Gemeinde“ beschreiben, ist immer eine konkrete Versammlung. „Gemeinde“ ist kein abstrakter Begriff, der statisch definierbar wäre. Er ist vielmehr dynamisch. „Gemeinde“ entsteht immer neu und aktuell. Nichts anderes meint das Jesuswort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20)
Gemeinde zwischen Sammlung und Sendung
Zwei Merkmale sind folglich grundlegend für eine christliche Gemeinde: Sie ist immer eine Versammlung, die im Namen Jesu oder Gottes zusammentritt. Dabei ist die Versammlung nie Selbzweck. Bereits in der Urgemeinde ist der Mittelpunkt der Versammlung das „Brotbrechen“ und das Gebet. Aber auch diese Sammlung dient nicht nur der individuellen Frömmigkeit. Der Auftrag des Auferstandenen: „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15) gilt auch heute noch. Die sich immer wieder neu aktualisierende Gemeinde steht so in der Spannung zwischen Sammlung und Sendung. Eine einseitige Ausrichtung birgt Gefahren: Eine Gemeinde, die sich nicht mehr gesandt weiß, wird irrelevant für die Welt. Sie erfüllt ihren Auftrag nicht. Andererseits verliert eine Gemeinde, die sich nicht mehr auf ihre innerste Mitte besinnt, Gemeinde im Namen Jesu bzw. Gottes zu sein, verliert ihre ureigenste Identität.
Pfarrei und Gemeinde
Dieser kurze Blick zurück zu den Ursprüngen der Kirche kann uns helfen, die Zukunft klarer zu sehen. Unser heutiges Gemeindebild ist von verschiedenen Aspekten beeinflusst. Auf der einen Seite hat sich seit der Reformationszeit die Pfarrei als pastorales Grundprinzip etabliert. Sie zeichnet sich vor allem durch territoriale Grenzziehungen aus, die Zuständigkeitsbereiche für die Seelsorge markieren, die der Bischof einem Pfarrer zuweist. Über Jahrhunderte hinweg hat sich so ein Denken entwickelt, dass nicht nur Gemeinde und Pfarrei gleichsetzt, sondern auch einem gewissen Besitzstandsdenken Vorschub leistete. Der eigene Kirchturm wurde wichtig und musste unter Umständen auch verteidigt werden. Damit aber verlor der Begriff „Gemeinde“ seine Dynamik. Gemeinde wurde statisch definiert durch die in einem Territorium ansässigen Christen.
Solang die Kirche eine Volkskirche und Gesellschaft christlich geprägt war, entstanden aus dieser dem eigentlichen Wesen der Gemeinde zuwiderlaufenden Definition keine wirklichen Schwierigkeiten. Mittlerweile aber hat die Kirche an gesellschaftlichem Einfluss verloren. Die Menschen sind mobiler und die Welt pluralistischer geworden. Es ist nicht mehr selbstverständlich, Christ zu sein. Damit steht auch die Gemeinde vor einer neuen Herausforderung.
Quo vadis ecclesia?
Die sich verändernden Rahmbedingungen zwingen zum Umdenken. Was wir heute allgemein als gemeindliches Leben bezeichnen, ist in dieser Form ein Produkt der 70er Jahre des verganenen Jahrhunderts. Damals, vor etwa 30 Jahren, begriff man „Gemeinde“ als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“. Man gründete Kreise, unterhielt Jugendgruppen, Pfarrfeste und Pfarrkarneval wurde gefeiert. Das alles trug in einer noch volkskirchlich gepräg-ten Zeit zu einer Verlebendigung und Stärkung des Gemeindelebens bei. Nun verändert sich aber durch die allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen und den amit verbundenen allgemeinen Sparzwang die äußere Struktur der Kirche. Pfarrei und Gemeinde werden nicht mehr deckungsgleich sein. Außerdem leben wir in einer nachvolksirchlichen Zeit, in der das gesellige Gemeindeleben dazu führt, dass viele Gemeinden zu sehr um sich selbst kreisen. Wie sieht da die Zukunft der Ortsgemeinde aus?
Blick zurück nach vorn
Auch in der vor uns liegenden Zukunft wird es die Gemeinde am Ort geben. Sie wird nicht unbedingt Pfarrei sein. Das ist vielleicht der wichtigste Lernschritt, den wir gehen müssen: Verwaltung und gemeindliches Leben nicht abhängig voneinander zu machen. Woran aber ist eine Gemeinde zu erkennen?
Fasst man die hier gemachten Überlegungen zusammen, so könnte man Gemeinde folgendermaßen definieren: Gemeinde ist die stets neue Versammlung von Menschen im Namen Jesu, die gesandt sind, das Evangelium zu verkünden. Diese vom neutestamentlichen Gemeindebild inspirierte Definition kann uns den Weg in die Zukunft weisen. Sie macht deutlich, dass es Orte der Begegnung braucht, an denen sich Christen im Namen Jesu ver-sammeln können. Das können Kirchen ebenso sein, wie Wohnungen von Christen. Sicher auch Pfarrheime – auch wenn sie vielleicht im benachbarten Ortsteil liegen. Die Ortsgemeinde wird also mobiler werden: Das Volk Gottes ist unterwegs!
Als von Gott Gesandte dürfen wir uns deshalb nicht einschließen und hinter schützenden Kirchen- und Pfarr-heimmauern verstecken. Die Ortsgemeinde der Zukunft wird öffentlich zeigen müssen, in wessen Namen sie sich versammelt und wer die Mitte ihrer Versammlung ist. Das in Veruf geratene Wort von der Mission, das nichts anderes als Sendung bedeutet, wird auch von den Ortsgemeinden, wenn sie eine Zukunft haben wollen, neu entdeckt und gefüllt werden müssen: „Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15)
Schließlich wird man das Bewusstsein schärfen, im Namen Jesu versammelt zu sein. Nicht alles, was heute im gemeindlichen Leben wichtig und unverzichtbar erscheint, hält diesem Anspruch stand. Vielleicht ist hier das Kriterium zu sehen, an dem sich für die Ortsgemeinde Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden lässt. Viele gemeindliche Grabenkämpfe, die heute hier und da geführt werden, werden diesem Anspruch nicht standhalten: Gemeinde existiert nie für sich!
Die Kirche wird im Ort bleiben
Die Ortsgemeinde hat nicht nur eine Zukunft, sie wird in Zukunft auch unverzichtbar bleiben. Allerdings werden wir lernen müssen, dass es nicht tote Steine, Häuser und Heime sind, in denen die Zukunft liegt, sondern leben-dige Steine, so wie es im ersten Petrusbrief heißt: „Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefal-len.“ (1 Petr 2,5) Die Kirche wird ein neues Gesicht bekommen, ihre Identität wird bleiben. Es liegt an uns, im Ort dem Evangelium ein Gesicht zu geben. Vieles wird neu sein. Eingefahrene Pfade müssen verlassen werden. Ungewohnte Weg liegen vor uns und müssen erst gesucht werden. Manches müssen wir neu lernen. Die Verhei-ßung Jesu aber steht fest: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20)
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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